Passionskonzert am 24. März 2024

Am 24. März führen wir um 18 Uhr in St. Agnes Telemanns Brockes-Passion TWV 5:1 auf. Dabei musizieren neben großartigen Solistinnen, Solisten und Orchestermusikern auch der Kirchenchor von St. Agnes und die Chorgemeinschaft Fasanerie-Feldmoching. Der folgende Beitrag dient zugleich bei der Aufführung als digitales Programmheft, um so Papier zu sparen und die Umwelt zu schonen.

Die Aufführung wurde unter anderem im Feldmochinger Lokalanzeiger beworben. Dort wird in der Vorschau berichtet, was mich an der Brockes-Passion fasziniert und wie ich das Projekt angegangen bin. Im Wesentlichen habe ich die Brockes-Passion um etwa 40 % ihrer Länge gekürzt, dabei aber darauf geachtet, dass die Passionserzählung sowohl noch in sich schlüssig bleibt als auch eine repräsentative Auswahl der interessantesten Musiknummern geboten wird.

Librettist und Komponist

Die Brockes-Passion hat ihren Namen vom Textdichter Barthold Heinrich Brockes, einem Hamburger Ratsherrn, Schriftsteller und Dichter der frühen deutschen Aufklärung. Das Libretto trug ursprünglich den etwas langatmigen Titel „Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus“, inspirierte aber dennoch über zehn Komponisten, es zu vertonen. Die berühmteste Vertonung gelang unzweifelhaft Georg Friedrich Händel, aber auch Bach war sich nicht zu schade, einige Versatzstücke von Brockes in seiner „Johannespassion“ zu verwenden.
Der barocken Tradition folgend, versah Brockes nämlich den biblischen Passionstext, den er übrigens aus allen vier Evangelien „zusammenschusterte“, mit eigenen poetischen Gedanken in Form von Chorälen und Arien und gebrauchte dabei für heutige Ohren krasse bis schaurige Sprachbilder („Was Bärentatzen, Löwenklauen trotz ihrer Wut sich nicht getrauen, tust du verruchte Menschenhand.“ „Die Teufel selber schämen sich ob meiner Taten.“) Diese überzeichneten Bilder haben die Komponisten offenbar besonders inspiriert, zumal sie sich sehr gut zur Vertonung eignen.
Telemann, der die an diesem Spätnachmittag aufgeführte Brockes-Passion schrieb, war ein Vertreter des Barock und ein kreativer Vielschreiber: An die 3.600 verzeichnete Werke komponierte er im Laufe seiner 86 Lebensjahre, über 40 davon sind Passionen. Dreimal hat er sich die Brockes-Passion vorgenommen und vertont, doch nur die Variante von 1716 ist erhalten. Sie trägt im Werkverzeichnis die Nummer „TWV 5:1“.

Teilnehmende Musikerinnen und Musiker

Angelika Reintzsch (Violine 1, Konzertmeisterin), geboren 1983 in Bonn, studierte an der Hochschule für Musik in Detmold Geige bei Thomas Christian und lebt seit 2013 in München, wo sie als Geigerin in Violinpädagogin wirkt.

Christine Weiß (Violine 1) studierte an der Münchner Musikhochschule Geige und Musikalische Früherziehung. Ihrer pädagogischen Tätigkeit geht sie seit 30 Jahren passioniert nach. Gleichzeitig besitzt sie umfangreiche Erfahrungen in der Kammermusik und als Orchestermusikerin.

Jarah Labib (Violine 2), geboren 2002, spielt Geige und Klavier. Menschen mit Musik in Berührung zu bringen, die sonst eher wenig Zugang zur Tonkunst haben, ist ihre Leidenschaft, seit sie sich 2020-2021 bei der in Schleswig-Holstein ansässigen Organisation „musiculum“ engagierte. Sie studiert Elementare Musikpädagogik und Geige in Augsburg.

Anna Helfer (Violine 2), geboren 2000, spielt seit ihrem fünften Lebensjahr Geige. Nach ihrem Abitur 2018 studierte sie zuerst Musikwissenschaft in Salzburg und München. 2020 wechselte sie die Fachrichtung und studiert seitdem Grundschullehramt in München an der LMU, seit 2023 auch an der Musikhochschule.

Sophie Graf (Bratsche), geboren in Memmingen, wo sie auch das musische Gymnasium besuchte, studiert seit 2023 in München an der Musikhochschule Schulmusik. Außerdem besitzt sie reiche Erfahrung im Bereich Kirchenmusik und nahm an der Ausbildung für C-Kirchenmusiker des Bistums Augsburg teil.

David Weiß (Cello) besuchte das musische Pestalozzi-Gymnasium und lernte Cello, Klavier, Orgel und Gesang. Er vertiefte seine musikalische Entwicklung durch Meisterkurse in Holland, Österreich, der Schweiz und Vietnam und wirkte an Projekten mit renommierten Dirigenten wie Kent Nagano und Karl Jenkins mit. Aktuell widmet er sich dem Studium der Instrumental- und Gesangspädagogik in Augsburg.

Matthias Stein (Cembalo), geboren 1973, ist Lehrer für Katholische Religionslehre, Mathematik und Informatik und arbeitet seit 2012 im Kultusministerium, wo er unter anderem für die Digitalisierung bayerischer Schulen verantwortlich ist. Seit 1983 spielt er Orgel und ist als Vertretungsorganist regelmäßig im Pfarrverband zu hören.

Klaudia Ligas (Oboe), geboren 1996 in Krakau, studierte Oboe in Krakau, Mannheim und München, wo sie derzeit ihren Master of Arts ablegt. Ihre Studien wurden unter anderem 2021 vom polnischen Ministerium für Kultur und Nationales Erbe mit dem Mloda-Polska-Stipendium ausgezeichnet. Sie gewann zahlreiche nationale und internationale Wettbewerbe, etwa in Ostrava, Belgrad und Stockholm. Auch als Kammer- und Orchestermusikerin ist sie sehr gefragt und arbeitet unter anderem bei den Münchner Symphonikern.

Magdalena Hofer (Sopran und Flöte) aus Rottal-Inn spielt von Kindesbeinen an Blockflöte, Klavier und singt. Von 2017 bis 2023 studierte sie an der Münchner Musikhochschule Schulmusik und entwickelte parallel ihr Gesangstalent weiter, beispielsweise durch einen Auslandsaufenthalt in Barcelona, wo sie bei Elena Copons studierte. Seit 2021 studiert sie außerdem Gesangspädagogik bei Monika Riedler in München.

Marina Plereiter (Sopran) wurde 1997 in Inzell geboren und beschäftigte sich zuerst besonders mit Volksmusik, gewann dabei auch mehrere Volksmusikwettbewerbe, zum Beispiel beim Traunsteiner Lindl. 2021 erschien ihre CD „Irgendwo dazwisch’n“. Von 2017-2022 studierte sie Schulmusik in München, gefördert von der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Seit 2022 vertieft sie ihre Lehramtsausbildung mit dem Erweiterungsfach Latein.

Raphael Beck (Tenor und Altus), geboren 1995 in Eichstätt, studierte zuerst in Eichstätt Angewandte Musikwissenschaft und Musikpädagogik, bevor er von 2017-2023 Schulmusik in München studierte. Dort genoss er Gesangunterricht bei Thomas Gropper als Tenor und Countertenor. Er trat bereits mehrfach als Solist in Opern- und Oratorienaufführungen auf (Orlofsky in „Die Fledermaus“, Monostatos in „Die Zauberflöte“ und als Schwan in „Carmina Burana“). Seit 2023 schließt er als Referendar seine Lehramtsausbildung ab.

Jakob Stolte (Bass) wurde 2000 in München geboren, spielt Cello seit 2006 und Klavier seit 2017. 2019 begann er sein Schulmusikstudium in München und exploriert seit dem auch regelmäßig die Welt des Gesangs, beispielsweise im Vokalensemble „6 for Chords“. Als Musiker entwickelte er sich besonders durch einen Auslandsaufenthalt an der CNSM de Paris weiter.

Text und musikalische Einführung

Die nummerierten Unterüberschriften stehen für einzelne Musiknummern. In Klammern steht in der Überschrift der Sprecher der einzelnen Nummer. Sofern es mehrere Sprecher mit unterschiedlichen Texten gibt, werden diese im Haupttext kenntlich gemacht. In kursiver Schrift wurden Anmerkungen zum musikalischen Gehalt der einzelnen Abschnitte gemacht.

1. Sinfonia

Die getragene Musik der Sinfonia führt in die Stimmung der Passion ein.

2. Coro (Chor gläubiger Seelen)

Mich vom Stricke meiner Sünden zu entbinden, wird mein Gott gebunden. Von der Laster Eiterbeulen mich zu heilen, lässt er sich verwunden.

Es muss, meiner Sünden Flecken zu bedecken, eignes Blut ihn färben, ja, es will, ein ewig Leben mir zu geben, selbst das Leben sterben.

Wie eine Antwort auf die Sinfonia klingt dieser Coro. Seine Tonart (c-Moll notiert als Dorisch auf c mit hinzugefügtem As) korrespondiert mit der Tonalität der Sinfonia, die außerdem auf G-Dur wie mit einem musikalischen Doppelpunkt endet. Weil aber Telemanns originaler Chorsatz für unsere Chöre zu hoch gesetzt gewesen wäre und weil ich keinesfalls die Tonartenarchitektur an dieser Stelle zerstören wollte, singt hier statt eines Chores die Sopranistin Marina Plereiter alleine.

3. Recitativo (Evangelist)

Als Jesus nun zu Tische saße und er das Osterlamm, das Bild von seinem Tod, mit seinen Jüngern aße, nahm er das Brot, und wie er es, dem Höchsten dankend, brach, gab er es ihnen hin und sprach:

4. Accompagnement (Jesus)

Das ist mein Leib: Kommt, nehmet, esset, damit ihr meiner nicht vergesset.

Während der Evangelist als Erzähler der Handlung nur vom Cembalo und dem Cello begleitet wird, umgeben Jesu Worte die Streicher wie ein musikalischer Heiligenschein, ein Trick, den Bach in seiner Matthäuspassion vervollkommnet hat.

5. Aria (Tochter Zion)

Der Gott, dem alle Himmelskreise,

Dem aller Raum zum Raum zu klein,

Ist hier auf unerforschte Weise,

In, mit und unter Brot und Wein.

Und will der Sünder Seelenspeise,

O Lieb’, o Gnad’, o Wunder sein.

Die Arie kommentiert das Geschehene mit einer mystischen Innerlichkeit. Ich denke, es ist auch kein Zufall, dass die Arie nur von zwei Geigenstimmen – im Original eigentlich zwei Traversflöten – begleitet wird. Telemann wollte wohl zum Ausdruck bringen, dass das Letzte Abendmahl für ihn aus dem Dualismus von Brot und Wein besteht.

6. Recitativo (Evangelist)

Und bald hernach nahm er den Kelch und dankte, gab ihn ihnen und sprach:

7. Accompagnement (Jesus)

Das ist mein Blut im Neuen Testament, das ich für euch und viele will vergießen. Es wird dem, der es wird genießen, zur Tilgung seiner Sünden dienen. Damit ihr dieses oft erkennt, will ich, dass jeder sich mit diesem Blute träncke, damit er meiner stets gedenke.

8. Aria (Tochter Zion)

Gott selbst, die Brunnquell alles Guten,

Ein unerschöpflich Gnadenmeer,

Fängt für die Sünder an zu bluten,

Bis er von allem Blute leer

Und reicht aus diesen Gnadenfluten

Uns selbst sein Blut zu trinken her.

In perfekter Symmetrie folgt eine Arie, die den zweiten Teil des Abendmahls kommentiert. Um die Verbindung zwischen beiden Teilen zu vertiefen, greift Telemann die Musik von Nummer 5 auf, die exakt wiederholt, aber mit einem anderen Text kombiniert wird.

9. Choral (Choral der christlichen Kirche)

Ach, wie hungert mein Gemüte,

Menschenfreund, nach deiner Güte!

Ach, wie pfleg’ ich oft mit Tränen

Mich nach dieser Kost zu sehnen!

Ach, wie pfleget mich zu dürsten

Nach dem Trank des Lebensfürsten,

Wünsche stets, dass mein Gebeine

Sich durch Gott mit Gott vereine.

Der Handlungsbogen des Abendmahls endet mit einem zusammenfassenden Kommentar durch den Chor. Im Stil eines Kirchenlieds wählt Telemann für diesen Abschnitt einen Schluss ohne musikalischen Pomp.

In der gestrichenen Nummer 10 besteigt Jesus daraufhin mit seinen Jüngern den Ölberg, wo er von dem Verhängnis spricht, das ihn in der Nacht erwartet. Dennoch geloben ihm die Jünger Treue, insbesondere Petrus schwört Jesus pathetisch, ihn unter keinen Umständen zu verlassen, doch Jesus prophezeit Petrus, er werde ihn vor dem ersten Hahnenschrei dreimal verleugnen. Jesus zieht sich zurück und hadert mit Gott.

11. Aria (Jesus)

Mein Vater, schau, wie ich mich quäle,

Erbarme dich ob meiner Not!

Mein Herze bricht, und meine Seele

Betrübet sich bis an den Tod!

Die kreisende Melodik einer einzelnen Bratsche begleitet den Bass und verdeutlicht so seine Eingesponnenheit und Verstricktheit in einer dunkel gefärbten musikalischen Motorik.

12. Accompagnato (Jesus)

Mich drückt der Sünden Zentnerlast, mich ängstiget des Abgrunds Schrecken; mich will ein schlammiger Morast, der grundlos ist, bedecken; mir presst der Höllen wilde Glut aus Bein und Adern Mark und Blut. Und weil ich noch zu allen Plagen muss deinen Grimm, o Vater, tragen, vor welchem alle Marter leicht, so ist kein Schmerz, der meinem gleicht.

Brockes‘ schaurige Sprachbilder vertieft Telemann nicht nur mit scharfen und für das 18. Jahrhunderts misstönenden Dissonanzen, sondern auch mit einer zunehmend durchbrochenen Faktur voller klaffender Pausen.

13. Aria (Jesus)

Ist’s möglich, dass dein Zorn sich stille,

So lass den Kelch fürübergehn,

Doch müsse, Vater, nicht mein Wille,

Dein Wille nur allein geschehn.

Erneut kreiert Telemann eine Bogenform, indem er den Text von Nummer 13 mit der Begleitung von Nummer 11 kombiniert. Jesus kehrt nun zu den Jüngern zurück und findet sie schlafend. Sein Tadel geht im Lärm der anrückenden Meute unter.

18. Recitativo (Evangelist, Chor der Knechte, Judas, Jesus)

Evangelist: Und eh’ die Rede noch geendigt war, kam Judas schon hinein und mit ihm eine große Schar mit Schwertern und mit Stangen.

Chor der Knechte: Greift zu, schlagt tot, doch nein, ihr müsset ihn lebendig fangen.

Evangelist: Und der Verräter hatte ihnen zum Zeichnen lassen dienen:

Judas: Dass ihr, wer Jesus sei, recht möget wissen, will ich ihn küssen, und dann dringt auf ihn zu mit hellen Haufen!

Chor der Knechte: Er soll uns nicht entlaufen.

Judas: Nimm, Rabbi, diesen Kuss von mir.

Jesus: Mein Freund, sag, warum kommst du hier?

Jesus lässt sich gegen den Widerstand seiner Jünger freiwillig gefangen nehmen und wird fortgeschleppt. Während die Jünger fliehen, bleibt Petrus alleine zurück und plant, wie er Jesus retten kann.

23. Recitativo (Evangelist, Caiphas, Jesus, Kriegsknecht)

Evangelist: Und Jesus ward zum Palast Caiphas’ woselbst der Priesterrat versammelt saß, mehr hingerissen als geführet; und Petrus, bald von Grimm und bald von Furcht gerühret, folgt ihm von ferne nach. Indessen war der Rat, doch nur umsonst geflissen, durch falsche Zeugen ihn zu fangen; derhalben Caiphas also zu Jesu sprach:

Caiphas: Wir wollen hier von dem, was du begangen, und deiner Lehre Nachricht wissen.

Jesus: Was ich gelehrt, ist öffentlich geschehn, und darf ich es ja dir nicht hier erst sagen, du kannst nur die, so mich gehöret, fragen.

Kriegsknecht: Du Ketzer, willst dich unterstehn, zum Hohenpriester so zu sprechen! Wart, dieser Schlag soll deinen Frevel rächen!

24. Aria (Tochter Zion)

Was Bärentatzen, Löwenklauen

Trotz ihrer Wut sich nicht getrauen,

Tust du, verruchte Menschenhand.

Was Wunder, dass in höchster Eile

Der wilden Wetter Blitz und Keile

Dich Teufelswerkzeug nicht verbrannt.

Telemann hält das Geschehen, das er mit Rezitativen unbarmherzig rasch vorangetrieben hat, wie bei einem Standbild an: Eben noch sah man vor dem inneren Auge den Kriegsknecht seine Hand zum Schlag heben, nun unterbricht der Sopran – bei unserer Aufführung Magdalena Hofer – die Handlung fast mit Gewalt, um einen Fluch gegen den Kriegsknecht auszustoßen.

Während Jesus anschließend vom Priesterrat verhört wird, erkennen mehrere Angestellte in Caiphas‘ Haus Petrus als einen von Jesus‘ Anhängern wieder, er streitet alles ab. Doch als der Hahn kräht, versteht er, dass sich Jesu Prophezeiung bewahrheitet hat.

30. Choral (Chor der christlichen Kirche)

1. Ach, Gott und Herr, wie groß und schwer

Sind mein’ begangne Sünden!

Da ist niemand, der helfen kann,

In dieser Welt zu finden.

2. Zu dir flieh’ ich, verstoß mich nicht,

Wie ich’s wohl hab’ verdienet.

Ach Gott! Zürn nicht, geh nicht ins G‘richt,

Dein Sohn hat mich gesühnet.

Unter dem Eindruck des ungeheuerlichen, von Gewalt und Einschüchterung gekennzeichneten Schauprozesses attribuiert der Chor in barocker Manier die Schuld auf sich. Erst am Ende des Chorals hält er der Sünde proleptisch den Erlösungsgedanken entgegen.

31. Recitativo (Evangelist, Caiphas, Jesus, Rat der Priester)

Evangelist: Als Jesus nun, wie hart man ihn verklagte, doch nichts zu allem sagte, da fuhr ihn Caiphas mit diesen Worten an:

Caiphas: Weil man nichts aus dir bringen kann und du zu dem, was diese dich verklagen, gar nichts willst sagen, beschwer ich dich bei Gott, uns zu gestehn, ob du seist Christus, Gottes Sohn?

Jesus: Ich bin’s, von nun an werdet ihr zur rechten Hand der Kraft und auf der Wolken Thron mich kommen sehn.

Caiphas: O Lästerer! Was dürfen wir nun weiter Zeugnis führen? Ihr könnt es itzo selber spüren, was er sich hat erkühnt. Was dünket euch?

Evangelist: Drauf rief der ganze Rat zugleich:

Rat der Priester: Er hat den Tod verdient!

Telemann hält Jesus‘ ruhigem „Ich bin’s.“ zuerst die gebrochene Figur des Caiphas und schließlich die wutschnaubende Aggression des Priesterrats entgegen.

32. Aria (Eine gläubige Seele)

Erwäg, ergrimmte Natternbrut,

Was deine Wut und Rachgier tut,

Den Schöpfer will ein Wurm verderben.

Ein Mensch bricht über Gott den Stab,

Dem Leben sprecht ihr’s Leben ab,

Des Todes Tod soll durch euch sterben!

Wie zuvor schon einmal fügt Telemann einen Fluch auf die Akteure ein. Die zerhackten Rhythmen dieser Arie versinnbildlichen das, was Telemann als Bruch der Weltordnung versteht.

33. Recitativo (Evangelist, Tochter Zion)

Evangelist: Die Nacht war kaum vorbei, die müde Welt lag noch im Schlaf versenkt, als Jesus abermal, in Ketten eingeschränkt und mit abscheulichem Geschrei ward nach Pilatus hingerissen.

Tochter Zion: Hat dies mein Heiland leiden müssen? Für wen? Ach Gott! Für wen? Für wessen Sünden lasst er sich binden? Für welche Fehler, was für Schulden muss er der Schergen Frevel dulden? Wer hat, was Jesus büßt, getan? Nur ich, nur ich bin schuld daran.

In den folgenden drei Nummern konzentriert sich Telemann auf Judas, der seinen Freund und seinen Gott verraten hat. Dabei fährt der Komponist zahlreiche Stilmittel auf, die die barocke Musiksprache kennt, um Verzweiflung und Chaos auszudrücken. Man beachte, dass die formale Anlage aus Rezitativ-Arie-Rezitativ das genaue Spiegelbild zu Jesus‘ Nummern 11-13 ist.

35. Recitativo (Judas)

O! Was hab ich verfluchter Mensch getan! Rührt mich kein Strahl? Will mich kein Donner fällen? Brich, Abgrund, brich, eröffne mir die Bahn zur Höllen! Doch ach, die Höll erstaunt ob meinen Taten, die Teufel selber schämen sich, ich Hund hab’ meinen Gott verraten.

Das Rezitativ entbehrt jeder formalen Symmetrie, eine tonale Sicherheit stellt sich nie ein und viermal stürzt die Begleitung im Cembalo rasend schnell in die Tiefe.

36. Aria (Judas)

Lasst diese Tat nicht ungerochen [= ungerächt],

Zerreißt mein Fleisch, zerquetscht die Knochen,

Ihr Larven jener Marterhöhle!

Straft mit Flammen, Pech und Schwefel

Meinen Frevel, Dass sich die verdammte Seele ewig quäle.

Vor dem Hintergrund der Hörgewohnheiten des 19. und 20. Jahrhunderts könnte man gerade den Anfang dieser Arie wegen ihrer klaren D-Dur-Tonalität als positiv gestimmt missdeuten. Für den Hörer des 18. Jahrhunderts wogen gleichwohl die formale Antisymmetrie, die metrische Instabilität zwischen einem wahrgenommen Dreier- im Widerstreit mit einem Vierertakt und die brodelnden Tonwiederholungen ungleich schwerer. Telemann wartet im weiteren Verlauf der Arie mit einer Dekonstruktion des Rhythmus – „Zerreißt mein Fleisch, zerquetscht die Knochen“ und vollkommen widersinnigen Textbetonungsverhältnissen – sowie irrsinniger Chromatik, etwa bei „quäle“ auf.

37. Recitativo (Judas)

Unsäglich ist mein Schmerz, unzählbar meine Plagen! Die Luft beseufzt, dass sie mich hat genährt; die Welt, dieweil sie mich getragen, ist bloß darum verbrennenswert; die Sterne werden zu Kometen, mich Scheusal der Natur zu töten; dem Körper schlägt die Erd’ ein Grab, der Himmel meiner Seel’ den Wohnplatz ab. Was fang ich dann, verzweifelter, verdammter Mörder, an? Eh’ ich mich soll so unerträglich kränken, will ich mich henken!

Telemann wählt unglaublich geschärfte Harmonien, um diesen Text zu begleiten und die Verzweiflung des Judas zu modellieren.

39. Recitativo (Evangelist, Jesus, Chor der Juden, Pilatus)

Evangelist: Wie nun Pilatus Jesum fragt, ob er der Juden König wär, sprach er:

Jesus: Du hast’s gesagt.

Chor der Juden: Bestrafe diesen Übeltäter, den Feind des Kaisers, den Verräter!

Pilatus: Hast du denn kein Gehör? Vernimmst du nicht, wie hart sie dich verklagen? Und willt du nichts, zu deiner Rettung sagen?

Evangelist: Er aber sagte nichtes mehr.

40. Aria à 2 (Tochter Zion, Jesus)

Tochter Zion: Sprichst du dann auf dies Verklagen

Und das spöttische Befragen,

Ewigs Wort, kein einzig Wort?

Jesus: Nein, ich will anietzo zeigen,

Dass ich wiederbring durch Schweigen,

Was ihr durchs Geschwätz verlort.

Erneut schreibt Telemann eine in sich gekehrte Arie, deren kreisende Figuration so lange fast auf der Stelle tritt, bis die drei Verse, die Brockes Jesus in den Mund gelegt hat, den harmonischen Rhythmus von Neuem beschleunigen.

41. Recitativo (Evangelist, Chor der Juden, Pilatus)

Evangelist: Pilatus wunderte sich sehr, und weil von den Gefangenen auf das Fest er einen pflegte loszuzählen, bemüht er sich aufs best, dass sie von ihm vor Barrabas, der wegen eines Mords gefangen saß, doch möchte Jesum wählen. Allein der Haufe rief mit grässlichem Geschrei:

Chor der Juden: Nein, diesen nicht, den Barrabas gib frei!

Pilatus: Was fang’ ich dann mit eurem sogenannten König an?

Chor der Juden: Weg, weg, weg! Lass ihn kreuzigen!

Pilatus: Was hat er denn getan?

Chor der Juden: Weg, weg, weg! Lass ihn kreuzigen!

Evangelist: Wie er nun sah, dass das Getümmel nicht zu stillen, so rief er endlich: Ja; und übergab ihn ihrem Willen.

-PAUSE-

44. Recitativo (Evangelist)

Drauf führten ihn die Kriegesknecht hinein und riefen, ihre Wut mehr anzuflammen, die ganze Schar zusammen, die bunden ihn an einen Stein und geißelten den zarten Rükken mit nägelvollen Strikken.

46. Recitativo (Eine gläubige Seele)

Nun, Seele, schau mit ängstlichem Vergnügen, mit bittrer Lust und mit beklemmtem Herzen, dein Himmelreich in seinen Schmerzen, wie dir auf Dornen, die ihn stechen, des Himmels Schüsselblumen blühn! Du kannst der Freuden Furcht von seiner Wehmut brechen. Schau, wie die Mörder ihm auf seinem Rükken pflügen, wie tief, wie grausam tief sie ihre Furchen ziehn. Die er mit seinem Blut begießet, woraus der toten Welt des Lebens Ernt entsprießet! Ja, ja, aus Jesu Striemen fließt ein Balsam, dessen Wunderkraft von solcher seltnen Eigenschaft, dass er sein eigne nicht, nur fremde Wunden heilet, uns Leben, Lust und Trost, ihm selbst den Tod erteilet.

Zum ersten Mal in dieser Passion kommentiert nicht eine Arie das Geschehen, sondern ein schlichtes Recitativo secco. Dabei bemüht Brockes komplizierte Sprachbilder aus dem Bereich des Ackerbaus.

48. Recitativo (Evangelist)

Wie nun das Blut mit Strömen von ihm rann, da zogen sie ihm einen Purpur an und krönten ihn, zu desto größern Hohn, mit einer Dornenkron.

50. Accompagnato (Tochter Zion)

Verwegner Dorn, barbarsche Spitzen, verwildert Mordgesträuch, halt ein, soll dieses Hauptes Elfenbein dein spröder Stahl zerritzen? Verwandelt euch vielmehr in Stahl und Klingen, durch dieser Mörder Herz zu dringen, die Tiger, keine Menschen sein. Doch der verfluchte Strauch ist taub; hör, wie mit knirschendem Geräusch, sein Drachenzähnen gleiches Laub durchdringt Sehnen, Adern, Fleisch!

Im letzten Drittel dieses Recitativo accompagnato – übrigens das einzige Rezitativ mit Streicherbegleitung in der Passion, das weder vom Chor noch von Jesus gesungen wird – verwendet Telemann eine besondere Spieltechnik: das sul ponticello. Dabei müssen die Streicher den Bogen möglichst nahe am Steg ihres Instruments führen, sodass ein obertonreicher, heiserer Klang entsteht.

54. Recitativo (Evangelist, Chor der Juden)

Evangelist: Drauf beugten sie aus Spott vor ihm die Knie und fingen lachend an zu schreien:

Chor der Juden: Ein jeder sei ihm untertänig, gegrüßet seist du, Judenkönig!

Evangelist: Ja, scheueten sich nicht, ihm ins Gesicht zu speien.

Es handelt sich hier um den ersten großen Spottchor der Passion. Telemann fängt die Atmosphäre der Gehässigkeit der aufgehetzten Volksmenge gnadenlos ein. Man achte auf das in grotesker Weise angeschliffene „gegrüßet“ und das pseudotänzerische „Judenkönig“.

59. Recitativo (Evangelist)

Wie man ihm nun genug Verspottung, Qual und Schmach hatt’ angetan; riss man ihm ab den Purpur, den er trug, und zog ihm drauf sein’ eigne Kleider an; und endlich führeten sie ihn, dass sie ihn kreuzigten, zur Schädelstätte hin.

60. Aria (Tochter Zion) e Coro

Tochter Zion: Eilt, ihr angefochtnen Seelen,

Geht aus Achsaphs Mörderhöhlen, Kommt!

Coro: Wohin?

Tochter Zion: Nach Golgatha.

Nehmt des Glaubens Taubenflügel, fliegt!

Coro: Wohin?

Tochter Zion: Zum Schädelhügel,

Eure Wohlfahrt blühet da, Kommt!

Coro: Wohin?

Tochter Zion: Nach Golgatha!

Es handelt sich hier um eine Aria con pertichini, also eine Arie mit Einwürfen durch den Chor. Nun wo sich im Passionsgeschehen die Stimmung zusehends verdüstert, setzt Telemann der Handlung eine hoffnungsvolle Botschaft entgegen. Wie in freudiger Erwartung jagen sich die Streichinstrumente durch eilige Tonleiterfigurationen hinauf und hinunter.

65. Recitativo (Evangelist)

Wie Sie nun an die Stätte, Golgatha mit Namen, mit Jesus kamen, wurd er mit Gall’ und Wein getränkt und endlich gar ans Kreuz gehenkt.

68. Choral (Choral der christlichen Kirche)

O Menschenkind, nur deine Sünd

Hat dieses angerichtet,

Da du durch die Missetat

Warest ganz zernichtet.

Telemann kommentiert die Kreuzigung mit dem kürzesten und traurigsten Choral der ganzen Passion.

69. Recitativo (Evangelist, Chor der Juden und Mörder)

Evangelist: Sobald er nun gekreuzigt war, da losete die Schar der Kriegesknecht um sein Gewand, und über seinem Haupte stand: Der Juden König, angeschrieben. Und die vorübergingen, lästerten und trieben Gespött mit ihm, wie auch, die bei ihm hingen:

Chor der Juden und Mörder: Pfui! Seht mir doch den König an! Bist du ein solcher Wundermann, so steig herab vom Kreuz, und hilf dir selbst und uns; so wissen wir’s gewiss.

Evangelist: Und eine dikke Finsternis, die nach der sechsten Stund entstand, kam übers ganze Land.

Hier folgt nun der zweite große Spottchor. Telemann versieht das Wort „solcher“ mit zahlreichen Tonwiederholungen, als würde die Volksmenge das Wort vor lauter Lachen kaum noch hervorbringen können. Demgegenüber steht die beschriebene zunehmende Verfinsterung der Landschaft, die unmittelbar danach aufkommt.

70. Aria (Eine gläubige Seele)

Was Wunder, dass der Sonnen Pracht,

Dass Mond und Sterne nicht mehr funkeln,

Da eine falbe [= fahlgelb] Todesnacht

Der Sonnen Sonne will verdunkeln.

Nach all der aufgehetzten Unruhe der letzten Nummern friert Telemann das musikalische Geschehen quasi ein; die Arie vertieft die im Text beschriebene Finsternis mit ihrem fast statischen Tempo. An einzelnen Stellen macht Telemann außerdem Gebrauch vom sogenannten Neapolitanischen Sextakkord, einem seinerzeit noch äußerst seltenen Akkord, der als Chiffre für nahendes Unheil oder Leid verwendet wurde.

71. Recitativo accompagnato (Evangelist, Jesus)

Evangelist: Und um die neunte Stund, als dies geschah, rief Jesus laut und sprach:

Jesus: Eli! Eli! Lama asaphtani!

Evangelist: Das ist in unsrer Sprache zu fassen:

Jesus: Mein Gott, mein Gott, wie hast du mich verlassen!

Evangelist: Darnach, wie ihm bewusst, dass alles schon vorbei, rief er mit lechzendem Geschrei:

Jesus: Mich dürst!

72. Arioso (Eine gläubige Seele)

Mein Heiland, Herr und Fürst!

Da Peitsch und Ruten dich zerfleischen,

Da Dorn und Nagel dich durchbohrt,

Sagst du ja nicht einzig Wort.

Itzt hört man dich zu trinken heischen,

So wie ein Hirsch nach Wasser schreit:

Wornach mag wohl den Himmelsfürsten

Des Lebenswassers Quelle dürsten?

Nach unsrer Seelen Seligkeit!

Telemann greift das im Text erwähnte Element Wasser auf und verwandelt es in ein plätscherndes und perlendes Begleitmuster auf der Blockflöte.

73. Recitativo accompagnato (Evangelist, Jesus)

Evangelist: Drauf lief ein Kriegsknecht hin, der einen Schwamm, mit Essig angefüllet, nahm und steckt ihn auf ein Rohr und hielt ihn ihm zu trinken vor. Hierauf rief Jesus laut mit ganzer Macht:

Jesus: Es ist vollbracht!

74. Terzetto (Drei gläubige Seelen)

O Donnerwort! O schrecklich Schreien!

O Ton, den Tod und Hölle scheuen,

Der ihre Macht zu Schanden macht!

O Schall, der Stein und Felsen teilet,

Wovor der Teufel bebt und heulet,

Wovor der düstre Abgrund kracht!

Es ist vollbracht!

Dieses Terzett ist die schwerste Nummer der ganzen Passion. Wie dräuende Blitze krachen die Tonrepetitionen der Streicher hernieder, während die drei Stimmen sich umschlingen und in epischer Chromatik das Heulen des Teufels imitieren oder Tod und Hölle mit wahnsinnigem Lachen in den Abgrund schicken. Die zeittypisch morbiden Texte sind hier mit einer intensiven barocken Klangsprache gemischt. Am Ende des musikalischen Kampfes steht das „Es ist vollbracht!“, das Telemann auch der Melodie nach aus Nummer 73 zitiert und so verklärt.

78. Recitativo (Tochter Zion, Evangelist)

Tochter Zion: O Großmut! O erbarmendes Gemüt!

Evangelist: Und er verschied.

Telemann transponiert während dieses nur zweizeiligen Rezitativs von E-Dur nach F-Dur, also um fünf Quinten abwärts, was selbst für die Musiksprache des 19. Jahrhunderts ein gewagter Schritt gewesen wäre. Im 18. Jahrhundert ist diese Modulation unerhört extrem.

85. Choral (Schlusschoral der christlichen Kirche)

1. Ich bin ein Glied an deinem Leib,

Des tröst ich mich von Herzen;

Von dir ich ungeschieden bleib

In Todesnot und Schmerzen.

Wenn ich gleich sterb, so sterb ich dir,

Das ewge Leben hast du mir

Mit deinem Tod erworben.

2. Weil du vom Tod erstanden bist,

Werd ich im Grab nicht bleiben:

Mein höchster Trost dein Affahrt ist,

Todesfurcht kann sie vertreiben.

Dann, wo du bist, da komm ich hin,

Dass ich stets bei dir leb und bin,

Drauf fahr ich hin mit Freuden.

3. So fahr ich hin zu Jesu Christ,

Mein Arm tu ich ausstrekken:

Ich schlafe ein und ruhe fein,

Kein Mensch soll mich aufwekken

Dann Jesus Christus, Gottes Sohn,

Der wird die Himmelstür auftun,

Und führn zum ewgen Leben.

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