Kritik zum Konzert von Balint Karosi an den Silbermann-Orgeln im Freiberger Dom am 3. August 2023
Donnerstag, 3. August 2023: Balint Karosi hat eben ein eineinhalbstündiges Orgelkonzert im Freiberger Dom beendet. Er sitzt vor den drei Manualen der historischen Silbermann-Orgel zu Freiberg, der Spieltisch kommt einem beengt vor, wie versenkt in den Sockel des Prospekts. Er sitzt da und stößt die Register nacheinander ab, einige Besucher sind rauf auf die Empore gekommen, um dem Amerikaner die Hand zu schütteln. Karosi dreht sich um, grinst: „Na, habt ihr es erkannt?“, fragt er. „Welche Zungen hab‘ ich im Trio verwendet?“ Wenn Besucher eines Orgelkonzerts anschließend knobeln können, welche Soloregister zur Verwendung kamen, muss es sich schon um wirklich ungewöhnliche Klangmischungen handeln. „Auf jeden Fall das Krummhorn am Oberwerk.“, befindet ein Zuhörer. Karosi lächelt: „Ja, aber die zweite?“ – Schweigen im Walde. – „Das Clarin 4‘ am Hauptwerk und ich habe alles einfach eine Oktave tiefer gespielt, damit die Lage wieder passt.“ Die Trompet 8‘ schien Karosi zu knallig, zu präsent gegenüber dem Krummhorn.
Die eigenwillige und feinsinnige Registrierungskunst ist nur ein Aspekt von Karosis meisterlichem Spiel, transparente und glasklare Artikulationen gehören eben dazu, gepaart mit einem Gespür für Zäsuren und Phrasenverläufe. Und Karosi kann sein Tun eloquent und verständlich ausdrücken – sein lehrreicher YouTube-Kanal ist voll von Orgeldemonstrationen, in denen Karosi sein Wissen um Bau und Klangeigenschaften von Registern sowie sein unheimliches Gespür für deren Einsatz unter Beweis stellt. Dabei ist Karosi ein stilistisch vielseitiger Interpret, der auch Beiträge zur zeitgenössischen Musik geleistet hat. Im Freiberger Dom spielte er allerdings nur barocke Werke, sodass der folgende Absatz auch nur für diese gilt.
Wenn man Karosis Herangehensweise an barocke Werke beschreiben möchte, fällt erstens seine Benutzung der Register auf. Viele Interpreten denken beispielsweise bei einem Choralvorspiel vom Choraltext aus und wählen dementsprechend ihre Register passend zur Faktur, andere schauen eher auf die vorhandenen Figurationen. Karosi bringt einen neuen Gedanken ein, denn er denkt von der Triosonate aus und bevorzugt in Trio-Situationen mit gleichrangigen Oberstimmen beispielsweise ähnlich klingende Kombinationen in beiden Oberstimmen – wie in den barocken Trios mit paarigen Melodieinstrumenten. Generell liebt Karosi den farbigen, aufgerauten Klang, meidet das reine Prinzipalplenum, der Quinte 2 2/3‘ oder dem Gebrauch einer (kurzbechrigen) Zunge widersteht er selten. Dies führt zum zweiten Charakteristikum. Karosi artikuliert in allen Stimmen sehr durchsichtig und transparent, nie extremes legato oder staccato, sondern immer ein feines Zwischending, was der Musik unheimliche Frische und Eleganz verleiht. Seine Artikulationen verhindern, dass seine farbigen Klänge zum Brei werden, und er kann die Artikulation an die Klangeigenschaften jedes Registers anpassen, indem er auf Ansprachegeschwindigkeit und „Dicke“ des Klangs reagiert. Zu Karosis Behandlung polyphoner Strukturen gehört drittens eine gewisse Detailverliebtheit in die Einzelstimme. Auch hier mag es unterschiedliche Interpretationsrichtungen geben, von der hierarchischen Unterordnung unter die Dominanz des Cantus firmus bis zur demokratischen Parität aller Stimmen. Stellt man sich diese Positionen als Enden einer Skala vor, tendiert Karosi eher zur demokratischen Polyphonie.
An diesem 3. August beginnt Karosi sein Konzert an der kleinen Silbermann-Orgel, ein einmanualiges Werk des berühmten Orgelbauers, das aus einer anderen Kirche in den Freiberger Dom geschafft und dort als Chororgel aufgestellt wurde. Ich persönlich bin nicht sicher, ob dies klanglich in Silbermanns Sinne gewesen wäre. Ihre Position im Raum beeinträchtigt meiner Hörmeinung nach die Ausbreitung von Direktschall gegenüber dem von Säulen, Decke etc. reflektierten Schall, worunter die Präzision des Klanges leidet. Beim ersten Stück, der Toccata Septima von Georg Muffat, kommt dies gleich zu Tragen. Karosi registriert mehrmals um und man merkt, wieso er dieses Stück auf der kleinen Orgel spielt. Die feineren Abschnitte kleidet Karosi in den schlanken Prinzipalklang des Instruments, doch bei den zupackenderen Stellen verschwimmen meiner Meinung nach die Figurationen in der Mittelstimme. Freilich könnte dieser Höreindruck an anderen Stellen im Raum differieren. Danach setzt Karosi mit Bachs Präludium und Fuge d-Moll BWV 539 einen Gegensatz. Er nimmt die Klangfülle zurück und interpretiert das Werk mit deutlich größerer emotionaler Kontenance, als man es sonst oft zu hören bekommt. Beim dritten Werk von Sebastián Aguilera de Heredia kommt der für Karosi so typische quintreiche Klang über einem vergleichsweise gravitätisch registrierten Bass zum Tragen. Karosis kurze Artikulation vor allem bei der Fanfaren-Motivik passt gut zur Seitenschiff-Akustik der kleinen Silbermannorgel. Nachdem er dieses Instrument mit stilistisch angemessenen Stücken bespielt hat, wechselt er an die große Silbermann-Orgel für den zweiten Teil des Konzerts.
Karosi präsentiert bei Praetorius‘ „Eine feste Burg ist unser Gott“ den vollen Sound des Instruments, kann aber auch nicht widerstehen, zwischenzeitlich etwas effekthascherisch zur Vox humana samt Tremulant zu wechseln. Köpfe drehen sich um, blicken hoch zur Orgel, die Klänge finden Gefallen und so fallen die etwas unrunden Übergänge beim Manualwechsel nicht weiter ins Gewicht; insgesamt aber lässt sich Karosi hier ein wenig zu Klangspielen hinreißen. Bei Homilius hingegen scheint diese Art der Klangbehandlung und Konturierung stilistisch gerade wünschenswert und so bilden die drei Choralvorspiele, die Karosi von diesem Bachschüler vorträgt, den schillernden Höhepunkt des Konzertes. Unvergesslich, wie Karosi in „Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut“ die drei Stimmebenen registriert: Im Bass verwendet er den wuchtigen Posaunbass für den Cantus firmus, die linke Hand nutzt die Hauptwerkstrompete (!) und die rechte einen mit quintigen Akzenten verzierten prinzipalischen Klang – de facto also drei Soloregistrierungen, die aufgrund der ständigen Lagenwechsel in den Händen die unterschiedlichen Bereiche der Registerkombinationen gegeneinander ausspielen. Bei „Straf mich nicht in deinem Zorn“ verzaubert eine liebliche Flötenregistrierung in beiden Händen; mit Liebe zum Detail überzeichnet Karosi die Momente, in denen sich die Oberstimme in die höchsten Lagen aufschwingt. Das Stichwort Empfindsamkeit scheint hier angebracht.
Nach dem fast zärtlichen letzten Choralvorspiel besticht der dritte Satz von Petzolds Concert in F-Dur mit vorklassischer Spielfreude. Karosi verwirklicht einen heiteren und transparenten Klang, den sequenzreichen Satz mit ausschweifendem Passagenwerk durchfliegt er leichtfüßig. Besonders schön sind die Augenblicke, in denen die Quintfallsequenzen am höchsten Punkt einer neuen Bewegung ansetzen, nachdem zuvor eher mittlere Bereiche der Skala erklangen. Da zerschneidet der neue Einsatz das musikalische Geschehen, wie wenn ein Blitz aus den Wolken herabstößt. Beim folgenden Trio BWV 583 verwendet Karosi die erwähnte Registrierung mit Krummhorn und Clarin, in der sich die Stimmen nicht abheben, sondern wunderbar verschlingen und verflechten. Die drei folgenden Choralspiele von Bach zeigen wieder Karosis feines Gespür für die Gattung Choralvorspiel. Besonders eindringlich ist die Gegenüberstellung von zwei Bearbeitungen von „O Lamm Gottes unschuldig“ BWV 1085 und 1095, einmal mit vernehmlichem Cantus firmus und einmal mit einer innig versunkenen Intimität aus Gambe plus Rohrflöte im Hauptwerk. Dabei werden wieder eine gewisse Zärtlichkeit und Sensibilität im Ausdruck angestrebt. Abschließend trumpft dann das sechsstimmige Ricercare à 6 aus dem Musikalischen Opfer nicht nur mit seiner eigenen chromatischen Komplexität und Länge sondern auch mit dem prachtvollen Mixturklang der Silbermann-Orgel auf. Stürmischer Applaus folgt und Karosi zeigt beim Verbeugen auch demonstrativ auf die Orgel und macht eine sympathische Geste als würde er die Orgel neben sich an der Schulter fassen und sich gemeinsam mit ihr verneigen. Hier trafen ein bemerkenswerter Interpret und ein bemerkenswertes Instrument aufeinander.