Kritik zu Händels „Semele“ im Prinzregententheater am 25. Juli 2023
(Semele – Bayerische Staatsoper)
Das Auge ist des Menschen wichtigstes Sinnesorgan; wenn Gesehenes unsere Aufnahme bereits vollständig in Beschlag nimmt, welche Chance hat dann Gehörtes, noch zu uns durchzudringen? Musiktheaterkomponisten waren sich dessen sicher schmerzlich bewusst. Darum haben sie immer versucht, das Bühnengeschehen nicht zu mächtig werden lassen. Extremer Realismus, statische Handlungsfortspinnung, inhaltliche Passung zwischen Bühnengeschehen und Sujetgeschehen, der Rückgriff auf dem Publikum bekannte Stoffe. Diese Kunstgriffe halfen Komponisten gegen die Machtambitionen der parasitären Kollegen aus der Regie. Deren Nachfahren freilich haben diese Unterwürfigkeit längst verlernt, sie wollen eigenen Sinn in einer Opernhandlung erschaffen. In der Regel aber lassen sich ihre Konstruktionen nicht mit dem „echten“ Sujet vereinbaren und früher oder später kommt beim Zuschauer der Dekonstruktionsfrust auf.
„Subit ecce priori / causa recens gravidamque dolet de semine magni / esse Iovis Semelen.“ (Ov. Met. III, 259-261) Aus der Perspektive von Junos berüchtigtem Zorn blickt Ovid anfänglich auf Semele, die Enkelin des zuvor eingeführten Agenor. Sie wird Semele anstiften, Jupiter zu zwingen, in seiner göttlichen Erscheinung mit seinen Attributen in Erscheinung zu treten, was Semeles Ende herbeiführt. Newburgh Hamilton denkt vom Ende her, davor konstruiert er die Dreiecksgeschichte Semele-Athamas-Ino und bedient sich für das Setting des zweiten Akts doch recht eindeutig bei Psyches Palast bei Apuleius – oder bin ich der einzige, der das so sieht? Claus Guth macht aus Semele eine unersättliche, zugreifende Ausbrecherin aus ihrem bürgerlichen Alltag. Händel und Hamilton können’s nicht mehr verhindern und der point of Dekonstruktionsfrustration ist da noch nicht erreicht. Das geht gut bis zur zweiundvierzigsten Nummer des zweiten Akts („I must with speed amuse her“). Hamilton macht an dieser Stelle eine große retardierende Kiste vor der Katastrophe im dritten Akt auf, die fast eine Stunde brillante Musik aber nur sehr wenig Handlungsweiterentwicklung enthält. Denn alle Figuren sind an dieser Stelle im Prinzip vollentwickelt und der Konflikt könnte beginnen.
An dieser erzähltechnisch schwächsten Stelle des Librettos schlägt Guths Stunde. Michael Spyres als Jupiter lässt seine Diener Schätze herbeibringen, die die stolze Brenda Rae – eine stimmlich kunstreiche Semele – verwirft, dann zeigen die Diener, Spyres und Jakub Orliński ihre Tanzkünste. Orliński flext und an dieser Stelle ist es auch nicht mehr wichtig, dass er dem Publikum eigentlich als Athamas bekannt ist. Der beleibte, kleine Spyres spielt mit seiner plumpen Ungeschicklichkeit und seinen unglaublich behänden Koloraturen. Kaum einer merkt, dass Guth hier die absolute Deutungshoheit über den Sinn des Bühnengeschehens übernommen hat. Nicht mehr Spyres verkörpert Jupiter, nein, der Gott hat Spyres Eigenschaften – und Spyres will in diesem Augenblick komisch erscheinen – Rae wird verkörpert durch Semele und Orliński ist einfach Orliński. In diesem Moment ist das Sujet der Oper vergessen, Semele wird zum Borderliner und der Gattungswechsel zur parodistischen Operette ist vollzogen. Guths Wahrheit wird hier so unglaublich bildgewaltig und überzeugend in Szene gesetzt, dass Händel, Hamilton, Ovid und Apuleius sowie alle musiktheatralischen Gattungsgrenzen kurz vergessen sind. Als Orliński seine Brille wieder aufzieht, ist der Zauber vorbei. Doch einige Minuten lang war es ganz allein Guths Geschichte.
Guths Inszenierung ist großartig und kommt nebenbei ohne Obszönitäten und Bühnenekel aus, mit dem seine Kollegen gerne protzen. Zweier ästhetischer Eigenschaften muss man sich aber bewusst sein. Guth parodiert in den ersten beiden Akten Handlungselemente, die das Sujet nicht als komisch vorsieht. Und er ist machthungrig, er erzählt, füllt Lehrstellen, spinnt weiter, entmachtet das Sujet.